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Menschlichkeit ist kein Menschenrecht

Comic Explosion mit dem Schriftzug "FUCK YOU"

Ich saß im Zug und die Frau neben mir trank 4.5h Kaffee. Naja, sie trank nicht direkt, teilweise schlief sie auch oder las. Wichtig ist, dass sie die gesamte Fahrt ihre Maske am Kinn hatte, um jederzeit trinkbereit zu sein. Das war am Rand des Legalen, aber ich hatte nicht die Kraft das jetzt mit ihr auszudiskutieren. Für mich war ihr Verhalten ein Zeichen, dass sie bereits klar entschieden hat was ihr wichtig ist und ihre Mitmenschen sind es nicht.

Ähnlich verhielt es sich mit der jungen Familie. Diese hatte das Töpfchen der Kleinen unter dem Sitz zu mir gerückt. Ich hatte es wieder vorgeschoben und mir nichts weiter gedacht. Kann ja mal passieren. Allerdings wurde es nach dem nächsten Einsatz nicht von der Familie zu sich genommen sondern aktiv und vehement zu meinem Rucksack und damit in die Sitzreihe hinter ihrem Vierer gestellt. Ich war baff. Klar, Keine:r will das benutzte Töpfchen bei sich stehen haben, auch nicht das der eigenen Kinder. Ich leider eben auch nicht.

Wenn ich schon bei Beispielen aus dem Zug bin: Sich im Zug der über Nacht fährt zu betrinken, zu pöbeln, vorbeigehende Frauen zu bewerten und generell alle im Großraumabteil vom Schlafen abzuhalten ist, wenn man die Reaktionen der Zugbegleiter:innen betrachtet, wohl erlaubt, denn ausser dem gelegentlichen Hinweis auf die Maskenpflicht war das alles geduldet.
Auf was will ich mit diesem Beispielen raus?

Es ist erlaubt ein Arschloch zu sein

Dir sind jetzt doch bestimmt selbst allerhand Beispiele eingefallen, wo die Grenzen des menschlich Akzeptablen überschritten wurden, aber die Grenzen des Legalen noch lange nicht.
Der Bauherr nebenan hat das perfektioniert. Er hat die Grenze des Menschlichen, des Nachbarschaftlichen lange hinter sich gelassen und sich haarscharf an der Grenze die das Gesetz zieht orientiert. Oder anders gesagt, er hat seine Mieteinnahmen optimiert. Und ich bin irre wütend und enttäuscht und kann kaum was machen. Erst muss bei uns Schaden auftreten, dann könnten wir klagen. Jetzt ist es aber so, dass wir Schaden an der Bausubstanz des Hauses lieber vermeiden. Also können wir mal sehen wie wir klar kommen. Ein Win Win Situation – also alle Wins für die Bauherren.

Erinnert an die Situation mit Stalker:innen, oder? Solange die gestalkte Person keine Schaden genommen hat, sind der Polizei die Hände gebunden.
Noch ein Beispiel Rassismus und Sexismus: Es ist im Großen und Ganzen erlaubt allen Schwarzen pauschal negative Eigenschaften zuzuschreiben oder zu denken Frauen seien einem was schuldig, nur weil sie Frauen sind.
Und jetzt kommt der Catch!

Diese Scheisse ist auch unsere Freiheit

So funktioniert unser Rechtssystem. Erstmal ist alles erlaubt.
Erst nach und nach werden Gesetze gemacht für Situationen wo die Menschen alleine wohl nicht weiter klar kommen. Und auch da muss erstmal jemand klagen, damit das Gesetz angewand wird. (“klagen” schönes Wort – gehe ich später noch drauf ein)

Du darfst ein egostisches Arschloch sein aus welchen Gründen auch immer. Darfst deine Kinder bis zu einem gewissen Grad sogar schlecht behandeln. Du darfst sooo viel das echt scheisse ist.
Die Querdenker:innen, die AfD haben das ähnlich wie der Bauherr nebenan, Stalker:innen und als Paradebeispiel Donald Trump, perfektioniert.
Sie trampeln auf ihren Mitmenschen rum und das haarscharf am Rand des Legalen aber tief in der Grauzone die normalerweise über Menschlichkeit verhandelt wird.

Arschloch sein als Qualifikation

In den letzten Jahren wurde immer wieder schön vorgeführt, dass die Annahme, dass ein amerikanischer Präsident ein Mindestmaß an Anstand mit ins Amt bringen würde an der Realität vorbei gedadacht war und das ist im Kleinen auch immer wieder zu beklagen.
Du darfst aber auch nett sein. Darfst fragen und zuhören. Du darfst Dinge auf Augenhöhe besprechen, du darfst Rücksicht nehmen und Hilfe annehmen. Hilfe die dir rechtlich ebenfalls nicht zusteht, Menschlichkeit ist keine Pflicht, aber Hilfe dir die jemand anders gerne gibt.

Das Leben, die Freiheit in dieser Grauzone hat so viele Möglichkeiten, so viel Potential, so viele individuelle Lösungen. Aber diese müssen erarbeitet werden, es bedarf Ehrlichkeit, Mut, Zuhören, Initiative und den Willen Kompromisse zu finden, neue Wege zu gehen, zu akzeptieren, dass der Ausgang des Gesprächs offen ist und dem Vertrauen darauf, dass was immer heraus kommt für alle gut sein kann und wenn man sich darauf einlässt auch sein wird. Man kann aber auch sein Ding durchboxen – ist alles erlaubt.

Die Grauzone der Menschlichkeit

Dass sich die AfD, Querdenken und auch unser Bauherr sich dieser Grauzone durchaus bewusst sind und gerne möchten, dass man ihnen mit dem Maximum an Rücksicht entgegen kommt sieht man daran, dass Herr Bauherr beim kleinsten Zeichen von Unmut unsererseits sich schon ungerecht und agressiv behandelt fühlte.

Querdenker:innen und AfD sehen sich ja nun ständig in ihrer Freiheit beschnitten, selbst wenn andere nur sachliche Kritik äussern. In der egozentischen Weltsicht muss mensch Kritik äussern, um die eigenen Interessen zu zentrieren, aber sich diese anhören zu müssen ist unangenehm und unangenehm ist nicht akzeptabel.
Damit sind wir beim Thema “Alle Rechte, keine Pflichten”.
Das geht aber nur bedingt lange gut. Wenn genug Leute sich “einmal ist keinmal” herausnehmen, ist am Ende eben doch alles kapput.

Klagen, Gesetze und Unbehagen

Um festzustellen, ob ein Gesetz gebrochen wurde, braucht es zudem erstmal eine Person die klagt. Wenn man das Wort jetzt mal aus dem juristischen Kontext nimmt, wird klar wo die Grauzone des individuellen Ungehagens, der individuellen Verhandlungen und gesellschaftlichen Normen anfängt und wo sie zu Klagen wird, die vor Gericht verhandelt werden. Ich nenne den gesetzlich geregelten Bereich mal die rote Zone. Der grüne Bereich in dem sich alle wohl fühlen und es keine Konflikte gibt, ist eh klar.

Der Duden hat u.a. folgende Definition für “klagen” im Angebot: “Unmut, Ärger äußern, sich beschweren”.
Sprich die Grauzone beginnt bereits an der Stelle an der Unmut entsteht oder ich mich ärgere und reicht bis zur Klage vor Gericht. Doland Trump hat das schön vorgelebt. Allen und allem was in ihm Unmut oder Ärger herforgerufen hat wurde mit einer Klage gedroht. Dass er Unmut und Ärger hervorgerufen hat war für ihn allerdings kein Problem. Wenn er Gegenwind bekam sah er sich direkt zensiert, verleumdet und Schlimmeres.

Wie auch bei Querdenken und der AfD wäre es eine unzumutbare Einschänkung der eigenen Freiheit sich so verhalten zu müssen, dass man keinen Unmut oder Ärger hervorruft. Da bin nicht nur ich sondern auch das Gesetz ganz auf ihrer Seite. Es ist für sie jedoch ebenfalls unzumutbar mit der eigenen Verantwortung für diesen Unmut konfrontiert zu werden. Dieser Satz wird noch richtig wichtig.

Alle Rechte, keine Pflichten

Darunter verstehe ich, die Grauzone so zu navigieren, dass die eigene Freiheit da endet wo die Gesetzgebung die Grenze zieht. Die Freiheit der anderen endet jedoch an der Stelle, an der bei mir Unmut oder Ärger hervorgerufen wird.
Man kann das auch so sagen: Die Freiheit deiner Faust endet juristisch an meiner Nasenspitzen. Das ist die rote Zone. Allerdings beginnt die Grauzone des Unbehagens schon ein ganzes Stück vorher. Die Frage ist jetzt wie wir diese Grauzone verhandeln. Wenn du jetzt mit deiner Faust vor meiner Nase fuchtelst ist das daneben und ist dir bestimmt klar. Beleidigt zu sein und “Zensur” zu schreien, wenn ich dann etwas dagegen sage, oder gar selbst die Faust erhebe ist aber schon der Gipfel und leider auch irgendwie Alltag.

Was nun? Regeln für die Grauzone

Tja, es gibt gesellschaftliche Nomen, “Das gehört sich so” die hier eine wichtige Rolle übernehmen. Hier soll das Ungeregelte geregelt werden. Wenn mensch etwas tut das sich nicht gehört, folgt meist keine Anklage im juristischen, sondern im gesellschaftlichen Sinn. Was sich gehört, kann sich aber auch ändern. Homosexualität war vor garnicht langer Zeit noch in der roten Zone. Dass die Arbeit mit der Entkriminalisierung nicht getan ist, zeigt sich darin, dass es in vielen Köpfen noch im Bereich des “Gehört sich nicht” ist. Erst wenn Homosexualität im grünen Bereich angekommen ist, ist die Arbeit getan.

Dann können wir darüber reden wie z.B. über die Körpergröße, die kann so oder so sein, die kann auch Thema sein und mensch kann Meinungen dazu haben, aber die Frage ob sich für Bernd oder Birgit groß sein gehört oder nicht stellt sich im Allgemeinen nicht.
Naja, selbst dieses Beispiel stößt leider schnell an seine Grenzen, denn auch bei der Körpergröße wirkt eine Abweichung von der Norm als Verstärker für andere Abweichungen vom Gehört sich nicht. Das geht aber jetzt über diesen Artikel hinaus.

Es ist… nicht einfach!

Der kategorische Imperativ kann uns gute Dienste leisten, wenn wir garnicht erst in die Situation kommen wollen, dass andere über uns klagen. Aber damit ist es nicht getan, nur weil ich etwas als lustig oder unproblematisch empfinde, ist es ja für mein Gegenüber nicht zwingend auch so.
Ich könnte hier jetzt ewig in Details gehen und würde letztlich doch nur aufzeigen, dass es immer drauf ankommt. Was in einer Situation passt, ist in einer anderen haarstäubend.
Das ist auch ein guter Grund dafür, sich mit mehr Gesetzen zurück zu halten. Die Vielzahl an Umständen in der Pandemie und die Versuche der Regelungen haben Maskengegner:innen wie Maskenbefürworter:innen in die Verzweiflung getrieben und ich vermute denen, die sich die Regeln ausgedacht hatten, ging es kein Stück besser.
Klare Regeln werden schnell mal gefordert, sie sind aber eine Illusion die es sich leicht macht und Kollateralschäden geradezu befürwortet.

Klare Regeln machen in den wenigsten Situationen Sinn und wenn wir mal genau hinschauen, ist sich die Menschheit noch nicht mal einig, ob Menschen töten pauschal schlecht ist.
Was bleibt ist das zähe, anstrengende, ehrliche und offene Miteinander Reden und einander zuhören. Marshall Rosenberg hat das auf internationaler Ebene sowie auf zwischenmenschlicher Ebene versucht uns mit GfK – Gewaltfreier Kommunikation – Werkzeuge dafür zu geben. Arbeit ist es trotzdem – auch wenn es sich lohnt.

Wie Währung der Grauzone: Wertschätzung

Das Doppelhaus nebenan hat einen ziemlich klaren Wert, für die Bank, auf dem Papier, basierend auf den Kosten. Das ist mehr als eine Zahl, aber wenn ich es jetzt in den Bezug zum Wert der nachbarlichen Beziehungen stelle, wird hoffentlich klar was ich meine. Die nachbarschaftlichen Beziehungen haben erstmal keinen benennbaren materiellen Wert, auch wenn gegossene Blumen Gartenfreund:innen weniger Kosten verursachen als Vertrocknete.
Das Wort “Wertschätzen” beinhaltet nicht nur “Wert” sondern auch “schätzen“, das in sich sowohl “annehmen, vermuten, für wahrscheinlich halten” als auch “(von etwas) viel halten, (auf etwas) besonderen Wert legen; sehr mögen” vereint.
Es ist also wichtig und unklar.
Das Beste: es kostet nichts.
Ok, stimmt, das ist natürlich nicht wahr. “Wertschätzung” ist die Währung der Menschlichkeit und es kostet mal wieder Zeit, Zuhören und Ehrlichkeit.

Mit Geld kann ich vermeindlich Sicherheit und auch Wertschätzung kaufen. Was mich so traurig, enttäuscht und auch wütend gemacht hat in den eingangs erwähnten Beispielen ist der Mangel an Wertschätzung. Wer seine Mitreisenden nicht schätzt, muss seine Maske nicht tragen, muss nicht leise sein und muss schon garnicht das eigene Pipipöttchen zu sich nehmen.
Wertschätzung unterscheidet gute von schlechten Interaktionen. Mir wurde in einer Chatnachricht durch Dritte mitgeleilt, dass es einen Fehler gab und mir jetzt Urlaubstage gestrichen werden. Das kann man schon machen, da wurde ein eher unangenehmes Gespräch gespart, denn ich war wenig begeistert, durch die Augen der Wertschätzung sieht das allerdings sehr sparsam aus. Naja und wer an der Wertschätzung spart, spart auch an Menschlichkeit.
Ach Wertschätzung – wie sehr sie sich jeder wünscht und die sehr wir damit sparen. Da wird auch nochmal ein Artikel in dem ich viel mehr Facetten des Themas aufgreifen will.

Die Unzumutbarkeit von Kritik

Oben hatte ich “Es ist für sie jedoch ebenfalls unzumutbar mit der eigenen Verantwortung für diesen Unmut konfrontiert zu werden.” geschrieben. Darauf möchte ich nochmal zurück kommen.
Kritik zuzulassen, zu ertragen, zu hören ist is für viele von uns unangenehm. Es ist auch eine Kunst und ist vielleicht die wichtigste Fähigkeit eines Menschen.
Wichtig ist dabei, dass der Wert der Person selbst nicht unmittelbar an richtig und falsch geknüpft ist und wer definiert denn jetzt überhaupt richtig und falsch innerhalb der Grauzone?

Ich kann ein grundsätzlich guter Menschen sein und etwas falsches getan/ gesagt/ gedacht haben. Ich kann mit den besten Absichten und voller Wertschätzung etwas getan oder gesagt haben das mein Gegenüber verletzt hat und jetzt empfinde ich Scham und Wut. Gehe ich jetzt zum Gegenangriff über oder gibt es eine andere mögliche Reaktion? Hier setzt die Achtsamkeit an, denn sie gibt uns Freiheit indem sie uns erlaubt zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu wählen.
Fehler machen mich nicht zwingend zu einem schlechten Menschen, aber die Weigerung zu reflektieren, zu fühlen, zu reden, zu hören und letztlich zu denken, tut es.
Und das ist die Voraussetzung für Wiedergutmachung und Verzeihen.

Was ist richtig? Was ist falsch?

Richtig und Falsch, gut und schlecht sind in der Grauzone oft verhandelbar. Sie unterscheiden sich von Mensch zu Mensch von Situation zu Situation. Diese Verhandlungen sind erstmal mit einem Unbehagen verbunden. Denn wenn verhandelt werden soll, lauert der Konfikt bereits. Unbehagen gibt es nicht nur, wenn wir Kritik hören, auch wer Kritik übt spürt oft ein Unbehagen, sodass die Kritik nur indirekt kommuniziert wird und letztlich statt Klarkeit nur mehr Unbehagen erzeugt. Auch seine eigenen Bedürfnisse zu kennen und zu nennen führt einen ins Reich der Unsicherheit und erzeugt damit Unbehagen. Ich könnte ewig so weitermachen.

Was ich letztlich sagen will ist, dass diese Verhandlungen und die daraus resultierenden Chancen und Freiheit nicht möglich ist, wenn wir uns unserem Unbehagen nicht stellen.
Ich kann mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass wir viele Chancen vergeben, wenn wir dem Unbehagen aus dem Weg gehen, wenn wir bei jedem Unbehagen den Menschen den Mund verbieten wollen.

Kritik bereitet Unbehagen, Kritik macht Arbeit aber Kritik muss auch zumutbar sein. Dazu gehört, dass ich mich der Kritik selbstkritisch stelle, aber auch dass die Form der Kritik zumutbar ist. Wenn Kritik in Drohung und Beleidigung gehüllt ist, sodass sie den Anspruch des Zumutbaren nicht mehr erfüllt, dann sind Kritisierten auch nicht mehr angehalten im Zuge einer konstruktiven Verhandlung zuzuhören. Wer mit seiner Kritik vorallem verletzen will kann sich erstmal an die eigene Nase fassen.

Wer jetzt wieder das eigene Ungehagen als Maß aller Dinge nimmt, kann an diese Stelle natürlich schön argumentieren, dass wenn die Kritik so formuliert ist, dass sie mir unangenehm ist, dann muss ich auch garnicht erst zuhören. Dann bitte nochmal zurück zum Anfang des Absatzes. Danke!

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