Am 14.09.2023 empört uns die Zeit mit dem Artikel „Einfach anders“ von Iris Mainka. Es geht um Autismus-Spektrum-Störungen. Hier ein paar Zitate aus dem Text, der in einer Schublade mit den irgendwie doch gut gemeinten Ratschlägen der Großeltern verschwinden sollte, die das Kind ja schon lieben, aber vor normativem Denken nur so triefen.
„Eine autistische Störung bleibt bei Mädchen öfter unerkannt, weil sie meist sozial anpassungsbereiter sind als Jungs.“ Soso, die lieben kleinen Mädchen werden eben meist so anpassungsbereit geboren, das ist ihre weibliche Natur, na ja und die nicht so anpassungsbereiten sind entweder Jungs, da ist es ok, oder sie sind vermutlich gestört, aber dazu gleich mehr. Dieser Absatz hat einiges zu bieten.
„Weibliche Spezialinteressen fallen womöglich nicht gleich als „nerdig“ auf.“ Puh, wenigstens interessiert sich die liebe Kleine für ein weibliches Thema, wie „Eine Zwölfjährige, die alles über Hochzeiten und Brautkleider weiß […].“
Zum Abschluss folgendes Schmankerl “Leonie hat durch ihre Diagnose erkannt, dass sie oft selbst in den Beziehungen das Problem war.“ Hurra!
Auffällig ist auch die geradezu genussvolle Hingabe an das Wort „Störung“. Auch wenn es so im Fachjargon heißt, erwarte ich in einem reflektierten Artikel einen anderen sprachlichen Fokus, diesen sehe ich auch auf den Seiten von entsprechenden Vereinen. Der Autismus Deutschland e. V. kommt auf der Startseite damit aus, das Wort Störung zweimal zu nutzen. Während besagter Text mindestens 17 Mal Störung unterbringt. Die Dunkelziffer liegt deutlich darüber, denn ich mag einige Nennungen überlesen haben und dazu kommt noch die häufige Nennung der Abkürzung ASS (Autismus-Spektrum-Störung). Die Kritik am Wort „Störung“ ist bestimmt an anderer Stelle knackiger formuliert worden, aber hier trotzdem ganz kurz. Wenn etwas gestört ist, impliziert das, dass es stört, es also vom Gestörten Gestörte gibt. Wer sind nun also diese Menschen, die gestört werden und mit welchem Recht nehmen sie sich heraus gestört zu sein und andere als Störende zu othern? Und was macht das mit uns als Gesellschaft? Es heißt auch, dass es eine störungsfreie Art zu sein gibt und eine dazu passende Welt der Ungestörten. Ganz schön verstörend.
Mal zum Beispiel Behinderung. Da mag es erstmal klar sein, dass Menschen mit Rollstuhl es im Alltag weniger einfach haben, denn sie werden allerorten behindert. Das kann ich jetzt ignorieren, weil es ja gerade nicht mein Problem ist. Ich kann Behinderungen, die von diesen Mitmenschen sichtbar gemacht werden, wie z. B. Treppen, die den Zugang zum öffentlichen Nahverkehr blockieren, aber auch ernst nehmen und mit Rampen ausstatten und Aufzüge installieren. Das bringt mir heute vielleicht persönlich noch nichts, außer ich bin mit schwerem Gepäck unterwegs, aber spätestens, wenn meine Eltern oder irgendwann ich selbst einen Rollator verwenden, werde ich für jede Rampe dankbar sein.
Genau so sehe ich Menschen, die auf Umgebungsreize stark reagieren, sind sie gestört oder bin ich vielleicht abgestumpft? Spätestens, wenn ich das nächste Mal Kopfschmerzen habe, werde ich für die reizarme Stunde im Supermarkt dankbar sein.
An diesen beiden Beispielen sieht man, dass dieses Gestörtsein ein zweifelhaftes Konzept ist. Das kommt auch in der Zweideutigkeit des Wortes – wie bei Behinderung – zum Ausdruck.
Und was machen wir jetzt? Auch da gibt es schöne Taten und Wörter: Rücksicht, Unterstützung, Teilhabe, Anteilnahme und vieles mehr.
Das alles bedeutet gesamtgesellschaftlich, nicht „gestört sein“ – in beiden Bedeutungen, sondern ganz im Gegenteil, genau dadurch erreichen wir die Ungestörtheit. Wir reißen die Störungen, die die Gestörten trennt, ein, um daraus Bausteine für eine sicherere und freie Gesellschaft zu gewinnen. Na und Sicherheit und Freiheit wollen wir doch!
Eine Gesellschaft, die anerkennt, dass wir alle irgendwie, irgendwo, irgendwann Ruhe, Raum und Rampe brauchen.
Eine Gesellschaft, die zwischen den einen Gestörten und den anderen Gestörten keine Grenze mehr zieht, sondern diese Nuancen der Existenz, dieses Glitzern im Dasein mit einem Lächeln im Angesicht der Vergänglichkeit annimmt.
Eine Gesellschaft, in der niemand stört.
Nein, ich denke nicht, dass das einfach ist. Ich glaube, es ist richtig schwer – für alle.
Nur ist die Alternative der Aus- und Abgrenzung auch schwer – für alle – und unmenschlich, gewaltvoll, sogar tödlich.
Damit hätte mein Artikel enden können, aber eins stört mich noch.
Wer fühlt sich denn aktuell gestört?
Wer stört denn gerade ganz bewusst?
Klimaaktivist*innen, das Gendersternchen, Feminist*innen, Antifaschist*innen, die letzte Generation und natürlich die auch in Artikel genannte – Achtung Zitat – “Greta Thunberg, von der es heißt, dass sie auch dank ihrer autistischen Störung so unbeirrbar ihre Ziele verfolgen könne.
Und da frage ich mich, wer ist denn jetzt wirklich gestört?
Menschen, die in der Reizüberflutung scheinbar gerade noch zurechtkommen, oder die offensichtlich darunter leiden?
Menschen, die Gefahren in Kauf nehmen, um sich der Klimakrise wenigstens zu stellen, oder die eingelullt oder resigniert mit ihrem Alltag weitermachen?
Menschen, die auf Missstände hinweisen, oder Menschen, die diese Missstände weiterhin ignorieren, da es sie selbst ja gerade noch nicht betrifft?
Menschen, die unangenehmen Wahrheiten aussprechen, oder Menschen, die sich wegducken, abwiegeln, verdrängen, Täter*innen decken?
Menschen, die einen beim Wort nehmen und zu ihrem Wort stehen, oder die, die es ja gar nicht so gemeint haben wollen?
Hier endet der Artikel auch – unabsichtlich? – einsichtig, wenn die anfangs schon genannt Leonie beschreibt:
„[nach der Diagnose] kommen Bemerkungen wie »Na, Einfühlungsvermögen ist ja nicht so eine Stärke.« Dabei bin ich sehr emphatisch. Aber ich spreche ehrlich Dinge an, die ich nicht gerecht finde.“
Wie immer, gerne her mit den Anmerkungen, Ergänzungen und natürliche den Kritiken. Ich schreibe ja nicht, um die ultimative Wahrheit zu verbreiten, sondern, um zu lernen.
Und ich wäre nicht verwundert, wenn auch dieser Artikel ableistischen oder sonstigen Unsinn enthält, also schreibt mir. Danke. 🙂
Artikel vom 24.09.
01.10. kleine Stil- und Rechtschreibkorrekturen im Text, ein Bild eingefügt.