Skip to content
Home » Gelebte Hilflosigkeit – Zugfahren

Gelebte Hilflosigkeit – Zugfahren

black and white sketch of monsters on the train - created with Midjourney

Wenig los vorgestern im Wagen 5 im ICE 377 von Hamburg nach Basel. Vereinzelte Passagier*innen am Rechner, am Telefon, am Stricken mit Kopfhörern (ich). Dazu eine Mutter mit zwei kleinen Kindern. Die Kinder hatten Energie, haben getobt, gequietscht, gequengelt. Das hat manchmal genervt, manchmal war es auch lustig sie so herumflitzen und am leeren Gepäckregal turnen zu sehen. Dazwischen Durchsagen der Bahn, dass die angezeigte Strecke von der wirklichen Strecke des Zuges abweicht, garniert mit einer wirklich ganz kleinen Verspätung. Soweit eine ganz normale unspektakuläre Bahnfahrt.
Kurz vor Ankunft in Mannheim, als ich gerade meinen Kram zusammenpacke, höre ich ein paar Minuten lang immer mal wieder Teile eines lauter werdenden Gesprächs, das an der Tür zwischen den Wagen stattfindet. Die Worte sind immer nur wirklich zu verstehen, wenn die Tür sich mal öffnet.
Hier Teile dessen, was ich so gehört habe. Das fing gleich haarsträubend an mit „Die Kinder bräuchten klare Ansagen.“ „Sie (die Mutter) und ihre Kinder würden den Zug terrorisieren.“ Es wurde mit der Polizei gedroht.
Mittlerweile hatte ich zusammengepackt und habe den Ausgang gewählt, wo besagte Mutter mit ihren Kindern versteinert stand. Das war jetzt nicht die Situation, in der ich was richtig machen und damit alles wiedergutmachen konnte. Ich sagte trotzdem kurz etwas Freundliches zu ihr im Sinne, dass ich bezeugen kann, dass alles ok war, dass es mir leidtut, dass sie so angegangen wurden und zu den beiden Kinder, dass sie total ok sind. Die Mutter war verständlicherweise nicht zum Reden aufgelegt, daher habe ich sie bis zum Aussteigen ein paar Minuten später in Ruhe gelassen. Als wir zusammen auf dem Bahnsteig standen habe ich gefragt, ob ich ihnen irgendwie helfen kann, was sie verneinte.

Rückblickend weiß ich nicht viel Konkretes über die Situation, da ich nichts gesehen und sehr wenig gehört habe.
Ich weiß, dass die Frau und ihre Kinder eine extrem unangenehme Erfahrung gemacht hat und sich zwei Menschen herausgenommen haben, sie völlig unangemessen zu belehren. Wohlgemerkt, soweit ich das beurteilen kann, nicht um ihr irgendwie zu helfen, nein, nur um sie herablassend und arrogant zu belehren. Dass ich aus dem Ganzen ein Machtspiel und Verachtung sehe und so klar Partei ergreife, erkläre ich mal so. Wer empathisch an die Sache herangegangen wäre, hätte sich entweder nicht weiter gestört oder versucht zu helfen. Aber was haben die Beiden erwartet, dass die Mutter ihnen dankt, da sie selbst nicht wusste, dass die Kinder Kinder sind und die Kinder danach sofort mit straffem Seitenscheitel am Tisch sitzen? Dass sie sich demütig für ihre Existenz entschuldigen, oder gar gleich in Luft auflösen. Nein, da wollten nur zwei, die sich für was Besseres halten, ihre Überlegenheit demonstrieren und haben dabei ihren Mangel an Allem außer der gewählten Ausdrucksweise demonstriert.

Black and white sketch of monsters on the train approaching two people - created with midjourney

Ich weiß nicht, was die Erfahrung heute mit der jungen Frau und ihren Kindern macht. Ich will mir kein Urteil erlauben, weiß nicht viel, ich wollte weder schweigen noch mich aufdrängen. Daher geht es jetzt weiter um mich, wobei es doch eigentlich um die Frau und ihre Kinder gehen sollte.

Was es mit mir macht, ist die Frage, wie sehr diese beiden Menschen sich überlegen und im Recht gefühlt haben mussten, um die Frau und ihre Kinder mit solch fordernder Überlegenheit anzugehen.
Sowas macht mir große Sorge, denn Menschen, die so fest an die Allgemeingültigkeit ihrer persönlichen Moral glauben, und andere derart öffentlich abwerten, sind nicht auf dem Weg in die offene, solidarische Gemeinschaft, die wir in den nächsten Jahren für das Überleben der Menschlichkeit brauchen, sondern das Gegenteil.

Was ich bisher nicht erwähnt hatte: Dass die junge Frau ein Kopftuch trug und deutsch mit deutlichem Akzent sprach, als sie ihre Kinder und sich wütend und verzweifelt verteidigte und die beiden Übergriffigen gebildet, gefasst und mitleidig überlegen, einer mit leichtem Schweizer Akzent daher kamen. Wie ändert sich das Bild in euren Köpfen? Eure Solidarität? Schleicht sich bei aller Reflektiertheit vielleicht doch Friedrich Merz ein?

Black and white sketch of monsters on a train looking out of the door and windows - cearted with midjourney

Rückblickend möchte ich noch die Gefühle hinterfragen, das sich in der Situation einschlichen: die Hilflosigkeit.
Das war zum einen natürlich Hilflosigkeit, weil sich etwas ereignet hat, das überhaupt nicht ok war und doch weitestgehend so stehen bleiben wird. Aber da war noch mehr, das ich jetzt mal dem White Saviourism zuordne. Die Enttäuschung (!?!), darüber, nicht die strahlende Heldin der Geschichte geworden zu sein, die mit Dankbarkeit überschüttet wird. Das Unbehagen, die Situation nicht durch mein heldinnenhaftes – stahlendweißes – Erscheinen gerettet zu haben.
Fühlt sich komisch und falsch an, das so zu schreiben, aber in der Situation waren die Erwartung und das Unbehagen neben der Hilflosigkeit so da. Was ein abgefucktes Kopfkino. Das hat Potenzial, die Situation schlimmer zu machen. Ich hoffe, ich habe in dem Versuch, die Balance zwischen „nicht schweigen“ und „aufdrängen“ nicht ganz daneben gegriffen.
Was bleibt ist lernen, aufmerksam sein, reflektieren, zuhören und es weiter versuchen. Nicht versuchen, die Heldin zu sein, sondern da zu sein – ohne Erwartung einer Belohnung.

Ach ja und heute habe ich den Abend mit einem sechsjährigen Kind verbracht und kann bestätigen, die Kinder im Zug haben das gemacht, was Kinder in dem Alter eben machen.

UPDATE: 15.06.2023
Zwei Antworten von Müttern später und ich habe drei Blickwinkel – und potenzielle Schadensquellen – in dem Vorfall.
1. Unerwünschte Kinder: Der generelle Unmut der Kindern (und Eltern – und besonders gerne in der Bahn) entgegenschlägt, wenn die Kinder nicht unsichtbar sind und wenn sie ruhig am Käschdl (Handy, Tablet und Co) sitzen, kann immer noch abfällig das „schlechte Eltern sein“ verurteilt werden. Wenn Kinder im Spiel sind gibt es in der Bahn kein richtiges Verhalten, zumindest aus der Sicht von einigen Mitfahrer*innen. Gibt es nicht auch “kinderfreie” Hotels? Ruheabteil = Kinderfrei…
Das erinnert mich an einen anderen Bahnvorfall: Die Kinder sichtlich müde, die Eltern taten ihr Bestes. Ein Mann steht auf und weist die Familie daraufhin doch leise zu sein, wir befänden uns schließlich im Ruheabteil. Der verbale Schlagabtausch mit dem akzentfreien Vater der hellhäutigen Familie war bedeutend kürzer.
2. “Ausländer”feindlichkeit und Islamophobie: Die Frage, wie viel mehr Anpassung Kindern und Eltern abverlangt wird, wenn sie nicht als deutsch gelesenen werden und dann letztlich doch nichts bringt, weil Kinder eh unerwünscht sind. Aber wie viel mehr von dieser Unerwünschtheit sie zu spüren bekommen. Als Kind und als „Anders“ markierte. Intersektionalität lässt grüßen.
3. Held*innenkomplex: Der Klusterfuck der Egos gepaart mit Whiteness, in der das Ego der weißen Person selbst in dieser Situation, die z. B. nun wirklich so garnichts mit mir zu tun hatte, trotzdem im Mittelpunkt der Geschichte stehen möchte. Ich hatte viel darüber gelesen, white fragility, white saviourism, white supremacy und trotzdem haben mich dieses “white ego” und seine ziemlich umgehende Einordnung umgehauen. Die Lektüre hat mich nicht darauf vorbereitet, aber mir geholfen es einzuordnen, und vor allem nicht danach zu handeln. Ich denke, dass es ein generelles “wer hilft erwartet Lob und Preis” Syndom ist, das mit dem White Supremacy Überhöhung fand. Vermutlich ist dahinter aber noch mehr. Ein Mechanismus in dem baseline menschliches Verhalten die Erwartungshaltung maximaler Dankbarkeit auslöst lässt ja nichts Gutes vermuten. Und wenn die Dankbarkeit ausbleibt, weil meine Hilfe nicht die Hilfe ist die die Person gerade will? Dann ist doch einer negativen Sicht auf die Person plötzlich Tür und Tor geöffnet denn dann ist das Ego gekänkt und dann wird die Situation nur noch schlimmer? Da kann nichts Gutes dahinterstecken.
Ich grabe mich da gedanklich gerade in ein Rabbithole, aber letztlich war es doch einfach.
Hilfe anbieten, “Nein” hören und die Person in Ruhe lassen.


Das ist der aktuelle Stand meiner Analyse.
Ich lerne nie aus und am Ende war der Artikel ja letztlich doch über mich.
Ist aber auch mein Blog, in dem es um meine Erfahrungen geht.
Mein safe space für die Nabelschau.

Achja und hier noch der friendly reminder es gibt viel mehr nette Menschen als Arschkrampen. Leider verdirbt einem eine einzige Arschkrampe direkt die gesamte Bahnfahrt und ich meine mit den Arschkrampen nicht die Kinder. Also im Zweifel gegen das Arschkrampendasein entscheiden, das ist gut für uns und die Umwelt – so wie das Bahnfahren.
Übrigens: Ist Kinderhasser*in vielleicht das DB Äquivalent zur Roadrage?

Tags: