Lass mich erklären… oder will ich mich rechtfertigen? Die Sätze die gesagt werden sind meist die gleichen, aber das Gefühl dabei ist ein ganz anderes. Normalerweise spüre ich das ganz genau und wenn ich in den emotionalen Zustand des “mich rechtfertigen müssens” komme, werde ich schnell ungehalten.
Vielleicht sollte ich das genauer betrachten. Wenn ich mich rechfertigen muss, kommt das daher, dass mein Gegenüber meine Tat oder Meinung nicht akzeptiert/ verurteilt. Ich empfinde es so, dass es dem Gegenüber nicht darum geht mich zu hören, zu verstehen oder einen Kompromiss zu finden, sondern darum, dass ich klein bei gebe.
Wenn ich mich erkläre, ist meine Tat oder Meinung vielleicht schon akzeptiert worden, zumindest ist sie nicht aktiv abgeleht worden. In dem Fall möchte ich mich erklären, um Hintergründe, Beweggründe der Entscheidung dazulegen mit dem Ziel von Verständnis und Verbindung.
Diesmal ist es nicht so einfach. Denn ich sitze im Zug. Ich fahre für knapp 3 Wochen zu meinen Eltern. Das sollte ich in diesem Moment nicht tun. Das ist der gesellschaftliche und wissenschaftliche Konsens und hinter dem stehe ich zu 100%. Trotzdem mache ich was anderes. Es ist also die Spannung zwischen “was ich tun sollte” und “was ich gerade tue”, die mir dieses Unwohlsein, ich würde fast sagen Scham, verursacht.
Ich möchte es dir erklären und auch irgendwie vor mir selbst rechtfertigen und vor dir.
Wenn mich andere dazu bekommen mich zu rechtfertigen, dann empfinde ich es so, als wollten sie mir zeigen, dass ich im Unrecht bin und mich schämen sollte. Was etwas ist, gegen das ich nicht ankämpfen möchte, es aber dennoch tue. Ich sollte mir den Schuh nicht anziehen lassen, mache es dann aber doch und es sträubt sich alles.
Heute empfinde ich Scham, denn ich nehme mir etwas heraus, das nur deshalb möglich ist, weil ganz viele Menschen um mich herum es nicht getan haben.
Ich bin also der Nutznieser der Gesellschaft, der “Reiseschmarotzer”, wenn ich es mal hart ausdrücken will. Und trotzdem sitze ich hier. Ich habe meine Gründe und für mich, nach einem Jahr Pandemie sind sie wohl überlegt, abgewogen und gut genug. Obwohl ich weiss, dass Gemeinschaft immer ein bestimmtes Maß an Schmarotzern hat und auch vertragen muss und dazu noch die Menschen denen Extratofuwürstchen ich nachvollziehen kann. Aber irgedwann ist es eben zuviel, wie die Inzidenzwerte uns zeigen.
Weil ich gerade von Schmarozern geredet habe, möchte ich an dieser Stelle erstmal anerkennen, dass mir hier mit liebevoller Beziehung, Homeoffice, Garten, Gesundheit und verhältnismäßig sicherem Job und und und die Ohren mit Privilegien klingeln. Damit habe ich viel mehr Freiheiten und viel weniger Sorgen als ganz viele andere Menschen: finanziell und mental und mir reicht es trotzdem bereits. Wäre ich gerade arbeitslos geworden und mir droht die Kündigung der Wohnung, sähe das alles ganz anders aus. Da würde ich mir auch nicht so nen Kopf machen. Wenn ich Schmarotzer sage, meine ich nicht jemanden der z.B. das bisschen Unterstützung vom Staat bekommt. Hutab, dass du dich überhaupt durch den Bürokratie Berg gekämpft hast, um zu überleben. Was ich meine sind Personen, die nur mit ihrem Verhalten davonkommen, weil alle anderen es sich nicht leicht machen. Es gibt unzählige Beispiele für “Wenn nur ich mal eben X, dann ist das doch ok” und damit das klappt müssen ganz viele andere sich das eben nicht rausgenommen haben. So betrachtet kommt der Scharotzer nach meiner Definition eher in den höheren Wohlstandsgruppen vor, denn per Definition wird sich da mehr herausgenommen, was in der breiten Masse nicht geht. Daher nenne ich mich selbst in diesem Kontext Schmarotzer, denn ich profitiere davon, dass ganz viele andere sich besser verhalten als ich, bzw. mehr zurück nehmen (müssen!) als ich…
Schwierig.
So, und jetzt meine Gründe und meine Vorgehensweise.
Ich habe meine Eltern seit gut 9 Monaten nicht gesehen. Zuletzt im Spätsommer als die Inzidenz sehr niedrig war. Sie sind zu zweit und zuhause und meine Mutter hat nen Computer und ein Handy. Es ist also verhältnismäßig einfach in Kontakt zu bleiben. Und trotzdem glaube ich zu sehen wie sie “zusammenschrumpeln” meiner Mutter sieht man das mehr an als meinem Vater, aber der ist auch ein klassischer “sich nix anmerken lassen Typ”. Im Angesicht der 3. Welle und der Schulen die vielleicht doch bald wieder öffnen wird der Zeitpunkt sie zu besuchen in den nächsten Monaten nicht besser werden. Und ich kann gerade nicht einschätzen wann die Gruppe über 70 geimpft werden wird. Also jetzt.
Der erhoffte positiven Effekt auf die Lebensgeister meiner Eltern ist selbst im Vergleich zur Gefahr einer Ansteckung durch mich riesig. Das haben meine Eltern und ich zusammen entschieden. An Weihnachten war das anders. Ich hatte schon die Bahntickets und mit den Inzidenzwerten damals, hatten wir uns dazu entschieden, dass ich sie nicht besuche.
Die nächste Frage ist das wie.
Zug buchen und los?
Nee, ich war ne Woche in Quarantäne, dann negativer PCR Test und jetzt im Zug (1. Klasse mit 3 anderen Menschen im Großraum Abteil). Ich kann mich also nur bei Test angesteckt haben oder jetzt im Zug. Ich trage aber nichts in den Zug hinein und das ist mir besonders wichtig. Die Wahrscheinlichkeit, dass mir persönlich etwas passiert ist garnicht so gross und wenn es wirklich nur um mich ginge, würde ich das Risiko vielleicht sogar eingehen. Aber wenn ich mich als Teil einer Übertragungskette sehe, in der irgendwer irgendwo dann doch schwer erkrankt und schlimme bleibenden Schäden davonträgt oder stirbt, dann möchte ich doch lieber etwas länger und etwas einsamer ausharren.
Es ist eine ganz schwierige Situation. Und es ist schwierig immer und immernoch länger zuhause zu bleiben, selbst wenn der Job nicht bedroht ist, oder gar das Zuhause.
Ich versuche das Maximum, das in meiner speziellen Situation möglich ist zu machen und allermeistens ist das sehr streng und distanced. In manchen Situationen im letzten Jahr war ich egoistisch, oder ich war mal nachlässig, oder ich hab mich mitreissen lassen. Ich habe auch die eine oder andere Regel gebrochen, wenn ich mir sicher war, dass die Ansteckungsgefahr deutlich geringer ist als im Supermarkt.
Trotzdem versuche ich jeden Tag das Allerbeste für die Gemeinschaft zu tun und ich hoffe das tust du auch mit dem was du in deiner speziellen Situation zur Verfügung hast. Vielleicht sehe ich dich mit einem Koffer im Bus, oder mit Freunden im Park. Ich werde dann an meine Geschichte denken und darauf vertrauen, dass du das Maximum tust und dich nicht verurteilen, denn was weiss ich schon von deiner Situation.
Ich danke dir für dein Verständnis und für dein unsichtbares Engagement für uns alle.
Bleib gesund und pass auf dich, deine Lieben und die Lieben deiner Lieben und die Lieben der Leute die du niemals kennenlernen wirst auf.
<3
Auch übrigens, wenn du gerade “würg” gedacht hast, weil es mir so gut geht, meld dich doch mal bei mir. Die Bemühungen, dass der Wohlstand gerechter verteilt wird, werden wie ich glaube lauter, aber so wirklich viel passiert trotzdem noch nicht. Und bis auf staatlicher Ebene was passiert, können wir ja schonmal anfangen und schauen wie es zwischen uns beiden mehr Solidarität geben kann.
Nachtrag: Ich bin bei meinen Eltern. Ich mache regelmäßig Schnelltests, um extra sicher zu gehen und meine Mutter ist mal ganz locker am 01.03. zum Frisör. So trifft eben jeder seine Entscheidungen.